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Non-Profit-Organisationen

 

"BESSER ALS DÄUMCHEN DREHEN"

Im Seniorenheim – und trotzdem noch gut in Bewegung? Der Bewohner 
Georg Salzmann beschreibt, welches Projekt seinen Tag bestimmt.

„Ich bin Steinbock – und Steinböcke sind Klugscheißer!“, stellt Georg Salzmann gleich zur Begrüßung klar. Man soll sich offenbar durch die vielen Bücherwände, die in seinem Zwei-Zimmer-Apartment kaum Platz für Bilder lassen, nicht eingeschüchtert fühlen. Dabei hat der 84-Jährige bereits ordentlich aussortiert: 16 000 Bücher nannte er sein eigen, bevor er heuer im Februar ins Seniorenheim zog. 3000 Bände sind geblieben, die er notdürftig untergebracht hat. Und doch kann er von seinem Hobby nicht lassen – er kauft weiter ein: wunderschön illustrierte Werke aus antiquarischen Beständen. Sein kostbarstes Stück ist eines mit Zeichnungen des Impressionisten Max Slevogt. Fast andächtig nimmt er seine neueste Errungenschaft aus dem Einwickelpapier und blättert genussvoll. Das Befühlen des ledernen Einbands, das Umlegen der Seiten aus edlem, handgeschöpftem Papier und der Anblick der Typografie, die er teilweise per Lupe in Augenschein nimmt, machen ihn offensichtlich glücklich. Man spürt es: Hier sitzt ein Kenner.

Das war nicht immer so. Die Regale des salzmannschen Elternhauses in Thüringen enthielten kein einziges Buch – in der Familie wurde nicht gelesen. Nur Georg entwickelte Leidenschaft für die Literatur und verschlang ein Buch nach dem anderen. „Wo hast du das nur her?“, fragte ihn seine Mutter kopfschüttelnd. Der Junge wuchs in einem tiefbraunen Milieu auf. Beide Eltern waren überzeugte Nazis, und selbstverständlich engagierte sich ihr Filius in der Hitlerjugend. „Während des Krieges arbeitete ich in den Ferien als Erntehelfer“, erzählt Georg Salzmann. „Wenn ich morgens beim Grasholen am Bahnhof vorbeifuhr, konnte ich die Züge mit den Buchenwald-Häftlingen sehen.“ Er empfand den Anblick nicht als besonders aufsehenerregend.

Die Wende kam mit der Niederlage des Deutschen Reiches. Als der Krieg offiziell als verloren galt, machte Vater Salzmann mit einer Pistolenkugel auch seinem Leben ein Ende. Bereits einen Monat nach der Kapitulation holte ein amerikanischer Offizier den Sohn ab und fuhr ihn in seinem Jeep nach Buchenwald, wo der 16-Jährige Überlebenden des KZs gegenübergestellt wurde. „Eine Umerziehungsmaßnahme im Zuge der Entnazifizierung“, erklärt Georg Salzmann. Er war nicht dumm und verstand schnell, dass er sein bisheriges Weltbild überdenken musste. „Zum ersten Mal sah und hörte ich die andere Seite. Meine ganze Erziehung hatte auf falschen Voraussetzungen beruht. Ich schämte mich, Deutscher zu sein!“

Der Junge wusste, dass er dieses Schlüsselerlebnis nur über die Literatur bewältigen würde. Und fing an, Bücher zu kaufen. Bücher, die die Nazis verboten und verbrannt hatten. Er stöberte verschollene Restexemplare auf, wie um seiner ideologischen Kehrtwende tagtäglich ein Mahnmal zu setzen. 60 Jahre lang verfolgte Georg Salzmann dieses Anliegen weiter, bis er über die weltweit größte Sammlung von Büchern ehemals verfemter Autoren verfügte. Sehr, sehr viel Geld verschlang seine Passion. Was bei seiner Frau regelmäßig auf Unverständnis stieß: „Als der Postbote wieder einmal ein großes Bücherpaket brachte, hörte ich sie murmeln: ,Jetzt ist der Alte völlig verrückt geworden!’“, schmunzelt der Büchernarr. Die Meriten kamen von anderer Seite: Die Sammlung geriet so umfangreich, dass die Universität Augsburg den Bestand übernahm und testierte, dieser sei einmalig auf der Welt. Deutsch-Leistungskurse hatten den Keller des Gräfelfinger Hauses der Familie Salzmann aufgesucht, um sich kundig zu machen. Sogar Bundespräsident Horst Köhler schickte eine Danksagung für dieses außergewöhnliche Engagement. Und die Gemeinde Gräfelfing verlieh eine „Ehrenurkunde für besondere Verdienste“.

Im Rudolf-und-Maria-Gunst-Haus, der dortigen Senioreneinrichtung, hat sich Georg Salzmann „vom ersten Moment an sauwohl“ gefühlt. Nur das Bücheraussortieren war ein Problem. Sein neues Sammelgebiet, das illustrierte Buch des 20. Jahrhunderts, beansprucht von Neuem viel Aufmerksamkeit. Bis zu vier Stunden täglich recherchiert und bestellt er im Internet. Erst vor Kurzem organisierte er eine Ausstellung über Max Slevogt im Foyer des Heims, die auch Besucher von außerhalb aufsuchten. Und als nächstes Projekt plant er einen Gesprächskreis zur deutschen Literatur. „Damit ich nicht geistig abbaue und Däumchen drehe.“

 

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"SCHICKT, WAS IHR KÖNNT"

Der Zusammenprall zweier Züge bei Warngau vor vierzig Jahren ist bis heute das schwerste Bahnunglück Bayerns. Die Münchner Rettungsleitstelle koordinierte den Großeinsatz.

Der 8. Juni 1975 ist ein strahlender Sonntag, wie geschaffen für einen Ausflug in die Berge. Wilhelm Mahler aus Krailling und seine drei Söhne, 14, 12 und 9 Jahre alt, nutzen die Gelegenheit: Sie nehmen den Zug nach Lenggries. Mutter Andrea und der jüngste Sohn bleiben allein zu Hause.

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In München tritt Erwin Prechtl um 14 Uhr seine Schicht in der Rettungsleitstelle an. Bis 22 Uhr wird er gemeinsam mit seinem Kollegen Günther Höcherl Hilfeersuchen aufnehmen und Rettungsdienstfahrzeuge dirigieren. Eigentlich wären sie zu dritt, aber ein Kollege hat sich krank gemeldet. Kein Problem, denken sich die beiden noch, am Sonntag ist es ohnehin ruhiger als an Werktagen. Verlegungen und Heimtransporte finden am Wochenende kaum statt, und auch die Zahl der Krankentransporte und Notfälle ist deutlich geringer, da viele Münchner die Stadt verlassen. Daher stehen den beiden Disponenten statt bis zu vierzig einsatzbereite Fahrzeuge heute nur neunzehn zur Verfügung.

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Am frühen Abend nehmen Wilhelm Mahler und seine Söhne die Seilbahn vom Brauneck zurück ins Tal. Die Zeit drängt: Während sich die Gondel der Talstation nähert, sieht die Familie ihren Zug bereits im Bahnhof von Lenggries warten. Es ist der letzte nach München, und der Vater mahnt zur Eile. Kaum wird die Tür der Gondel geöffnet, stürmen die vier in Richtung Bahnsteig. Der Lokomotivführer, entspannt aus dem Fenster seiner Kabine gelehnt, ruft ihnen grinsend zu: „Schickt’s euch! Sonst fahren wir ohne euch ab!“ Gerade noch rechtzeitig schwingen sich die vier in den ersten Waggon hinter der Lok.

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Währenddessen machen sich zwei Fahrdienstleiter der Deutschen Bahn bereit, eine Besonderheit des erst wenige Tage gültigen Sommerfahrplans zu regeln: Die Strecke zwischen Lenggries und Holzkirchen verläuft eingleisig, entgegenkommende Züge sollen an den Bahnhöfen Schaftlach oder Warngau kreuzen. Die Fahrdienstleiter müssen sich telefonisch abstimmen, wer seinen Zug auf die Reise schickt. „Luftkreuzung“ sagt die Fachsprache dazu. Die beiden Diensthabenden nehmen also Kontakt auf … und hätten sich nun an einen exakt vorgegebenen Wortlaut halten müssen. Stattdessen reden die beiden aneinander vorbei: Jeder bietet seinen Zug zur Durchfahrt an – und versteht den anderen so, dass dies bestätigt wurde. Erschwert wird die Abstimmung dadurch, dass die vierstelligen Nummern der beiden Züge bis auf die letzte Stelle identisch sind. Die Katastrophe nimmt ihren Lauf: Vom Bahnhof Schaftlach und vom Bahnhof Warngau aus begibt sich jeweils ein Zug auf den eingleisigen Streckenabschnitt.

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Wilhelm Mahler sieht sich indessen strafenden Blicken seiner Mitreisenden ausgesetzt: Seine beiden jüngeren Söhne albern lebhaft herum, was die Umsitzenden humorlos zur Kenntnis nehmen. Daher zieht die Familie lieber weiter nach hinten. Sie sitzen nun in der Mitte des ersten Waggons. In Bad Tölz sind weitere Wanderer zugestiegen, der Zug ist gut besetzt. Wilhelm Mahler konzentriert sich auf den Schaffner, der sich von vorn nähert – sie müssen ja noch Fahrkarten lösen. Plötzlich ein starker Ruck. „Notbremsung!“, ist Wilhelm Mahlers reflexhafter Gedanke. Die geht über in ein wildes Hin- und Herschwanken des gesamten Waggons. Sein ältester Sohn Matthias, der in Fahrtrichtung sitzt, wird über seinen gegenübersitzenden Bruder hinweg nach vorn geschleudert und prallt mit dem Kopf auf die Trennwand. Es wird finster hinter Wilhelm Mahlers Fenster. Der Waggon hat sich seitlich gedreht und rutscht, von unsanften Erschütterungen und einem ohrenbetäubenden Lärm begleitet, über das Gelände.

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Beim Fahrdienstleiter des Warngauer Bahnhofs klingelt das Telefon der bahnamtlichen Leitung – am anderen Ende fragt alarmiert der Kollege aus Schaftlach: „Was hat denn da g’scheppert?“ – „Was soi denn g’scheppert hab’n?“ – „Hast du vielleicht an Zug fahr’n lassen?“ – „Ja freili hab‘ i an Zug fahr’n lass’n.“ – „Ehrlich?“ – „Ja klar, i lüag di doch net oo.“ – „Dös darf doch net wahr sei!“ Es ist wahr: Bei Kilometer 44,312 sind um 18.31 Uhr zwei vollbesetzte Eilzüge mit etwa neunzig Stundenkilometern ineinander gerast. Das Aufeinandertreffen erfolgte in einem waldreichen Gebiet in einer der wenigen Kurven auf der Strecke – daher war der Sichtkontakt zu kurz, um die Fahrt wirkungsvoll zu bremsen.

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Nachdem der entgleiste Waggon zum Stillstand gekommen ist, finden sich Wilhelm Mahler und seine Söhne auf der Innenseite der Waggondecke wieder. Der Wagen liegt halb auf dem Dach; sie sind von Staub umgeben. Es herrscht absolute Stille. Der Vater sucht im Dunst seine Söhne zusammen und prüft, ob sie wohlauf sind. Auf den ersten Blick kann er keine Verletzung ausmachen. Ihm selbst rinnt Blut aus einer Wunde am Kopf und einer weiteren am rechten Handgelenk. Erst jetzt ertönt leises Stöhnen und Wimmern von den benachbarten Sitzen. Sichtbar verletzt ist im direkten Umfeld der Mahlers jedoch niemand. Sie versuchen, ein Fenster, das sich nun über ihnen befindet, zu öffnen. Es ist verklemmt. Die beiden jüngeren Söhne finden den Weg über Gepäckstücke und Trümmer zur zerborstenen Waggontür. Etwa zwei Meter, eine Böschung hinunter, müssen sie springen. Hastig laufen sie auf die angrenzende Wiese.

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Bereits kurz nach dem Unfall gehen bei der örtlichen Polizeidienststelle und beim Rettungsdienst in Miesbach die ersten Notrufe ein. Anrufe außerhalb der Bürozeiten werden damals von einem hauptamtlichen Mitarbeiter in seiner Dienstwohnung entgegengenommen. Ist dieser im Einsatz, übernimmt die Ehefrau den Telefon- und Funkdienst. Eine solche Ehefrau bearbeitet zunächst die Meldungen und schickt die rund um den Ort in Bereitschaft stehenden Retter los. Doch schnell wird klar: Dieser Notfall überfordert die Ressourcen der Region.

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Den Mahlers, nun sicher auf der Wiese stehend, offenbart sich das ganze Ausmaß der Katastrophe: Beide Loks sind ineinander verkeilt, ihre Form ist kaum noch zu erkennen. Der Waggon, in dem die vier vor wenigen Minuten nach Hause fuhren, liegt halb auf dem Dach neben dem Gleiskörper. Er hat nur noch einen Bruchteil seiner ursprünglichen Länge; beide Enden sind völlig verformt. Lediglich im Bereich der drei mittleren Fensterachsen blieb sein Querschnitt erhalten. Starr vor Schreck machen sie sich bewusst, dass sie in dem Abteil, in dem sie zuerst Platz genommen hatten, nicht überlebt hätten. Weil ihr Wagen aus dem Gleis geschleudert wurde, hat sich der folgende Waggon über der Lok aufgestellt. Dabei wurde sein Boden wie der Deckel einer Sardinenbüchse aufgerollt, die Fahrgäste fielen auf die Trümmer der Lokomotiven und wurden unter ihrem Waggon begraben. Den ersten Wagen des Gegenzuges hat es fast völlig über seine Lok gestülpt. Schwere Fahrwerke und Träger haben sich durch die immense Gewalt verbogen und ragen in den Himmel.

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Über Polizeifunk erfahren Günther Höcherl und Erwin Prechtl in München von dem Unglück. Beide werfen sich einen sorgenvollen Blick zu. Ihnen ist klar, was auf sie zukommt. Sie alarmieren den Rettungshubschrauber, der am Harlachinger Krankenhaus stationiert ist, und fordern von der Crew einen Lagebericht vom Notfallort. Gleichzeitig beordern sie vorsorglich drei ihrer Rettungswagen nach Warngau, informieren die Einsatzzentrale der Münchner Berufsfeuerwehr und bitten um technische Hilfe. Die Meldung aus dem Hubschrauber erfolgt keine Viertelstunde später: „Schickt, was ihr könnt!“ Fahrzeuge aus ganz Oberbayern werden nun in Alarmbereitschaft versetzt. Zwischen Schaftlach und Warngau stehen bald Posten bereit, die die ankommenden Fahrzeuge an der Straße abfangen und durch das unwegsame Gelände lotsen. Die örtlichen Freiwilligen Feuerwehren machen provisorische Hubschrauber-Landeplätze aus und sorgen – als die Dunkelheit einsetzt – für ausreichende Beleuchtung.

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Wilhelm Mahler und seine Söhne beobachten, wie Leitern an die Waggons gelehnt und Fenster zerschlagen werden, um die Verletzten und später auch die Toten zu bergen. Der Lokführer, der ihnen eben noch so freundlich zuwinkte, hat den Aufprall mit dem Leben bezahlt und wird mit gebrochenem Genick aus seiner Kabine gezogen. Ein Sanitäter kommt auf Wilhelm Mahler zu und deutet auf seine blutenden Wunden. Er schickt die vier in einen bereit stehenden Rettungswagen, in dem schon weitere Leichtverletzte warten. Der Fahrer bringt sie in ein Krankenhaus nach Bad Aibling.

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Daheim in Krailling, macht Andrea Mahler ihren Jüngsten bettfertig. Anschließend hört sie wie immer die Nachrichten im Radio und erfährt von der Katastrophe. Sofort hat die Mutter das Gefühl: „Die waren da drin!“ Sie versucht, sich zu beruhigen, wird ihr ungutes Gefühl aber nicht los. Sie kann nichts tun und läuft ziellos durch die Wohnung. Nach Stunden klingelt endlich das Telefon. Gott sei Dank: Es ist Wilhelm, der ihr versichert, ihnen sei nichts passiert. Er ist bereits im Krankenhaus und wurde an zwei Stellen genäht. Die beiden jüngeren Söhne haben nur Prellungen und Abschürfungen davongetragen. Matthias, der gegen die Trennwand geschleudert wurde, klagt über starke Kopfschmerzen und muss wegen eines schweren Schädel-Hirn-Traumas einige Tage im Krankenhaus bleiben.

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Erwin Prechtl und Günther Höcherl pendeln zwischen blinkenden Telefonen und zwei Funktischen hin und her. Sie koordinieren die Rettungsteams und die Rettungswagen mit den Verletzten. Parallel müssen sie jeden Einsatz handschriftlich dokumentieren, so verlangt es das Dienstprotokoll der 70er-Jahre. Die Kliniken rund um München melden ihnen freie Plätze, zivile Ärzte bieten ihre Hilfe an. Weitere sechs Hubschrauber – von der Polizei, der Bundeswehr und dem Bundesgrenzschutz – haben sie mit Ärzten nach Warngau und zum Krankenhaus in Holzkirchen beordert. Um die Kliniken rund um den Unfallort zu entlasten, organisieren sie Flüge auf die Theresienwiese, von der aus Rettungswagen die Verletzten auf die verschiedenen Münchner Kliniken verteilen. Verzweifelte Angehörige rufen an, ob es denn schon Namenslisten der Opfer gäbe. Parallel dazu müssen die beiden Kollegen den eigenen Rettungsdienst in München aufrechterhalten, obwohl sie einen Großteil ihrer Fahrzeuge zu dem Großeinsatz beordert haben. Erwin Prechtl stimmt sich mit den benachbarten Rettungswachen ab. Diese entsenden Rettungswagen zur Münchner Stadtgrenze und halten sich dort in Bereitschaft.

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Die Helferteams arbeiten die ganze Nacht: Mit Schneidgeräten befreien sie die Schwerverletzten aus den zerstörten Waggons. Teilweise mit Seilen auf provisorischen Bretterunterlagen festgebunden, werden sie aus den Fenstern gezogen. Verletzte, die noch nicht geborgen werden konnten, liegen zwischen Toten und Trümmerteilen. Ärzte sind zu ihnen vorgedrungen und versuchen, sie notdürftig zu versorgen. Vor den Waggons liegen mit Tüchern abgedeckte Opfer. Leichenwagen fahren sie zur Aufbahrung und Identifikation in die Warngauer Kapelle.

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Um 22 Uhr ist die Schicht von Erwin Prechtl und Günther Höcherl beendet. Mit einem langen Händedruck verabschieden sie sich voneinander. 41 Menschen starben bei dem Unglück, 126 wurden verletzt. Die beiden Fahrdienstleiter und der Beamte, der die Luftkreuzung im Fahrplan vorgesehen hatte, erhalten später Freiheitsstrafen auf Bewährung. Luftkreuzungen werden umgehend von der Bahn untersagt. Bis heute bleibt das Zugunglück von Warngau das schlimmste, das Bayern je erleben musste.

 

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"ERICH, BRING DEIN WERKZEUG MIT"

Seit fünfzig Jahren leistet Erich Schihan ehrenamtliche Dienste für den Münchner Sanitätsdienst. Die Einrichtung der EDV auf der Wiesnwache wurde zu seiner ganz speziellen Mission.

Da denkt der 75-jährige Helfer, in seinem Alter sei er nur noch zum Registrieren der Kollegen abgestellt – und ist dann ausgerechnet der einzige Sanitäter vor Ort, als eine Lebensrettung erforderlich wird.

Lange vor den anderen – wie immer viel zu früh – trifft Erich Schihan am 12. April diesen Jahres, einem Spieltag des FC Bayern, im Parkhaus vor der Allianz-Arena ein. Die Listen für die Registrierung der Einsatzkräfte hat er dabei, Parktickets und Akkreditierungsausweise vorbereitet. Während er auf die Kollegen wartet, erregen heftiges Winken und Rufe von Passanten seine Aufmerksamkeit: Ein älterer Busreisender, gerade angekommen, ist zu schnell eine Treppe hinaufgelaufen und oben zusammengebrochen. Als Erich Schihan den Mann erreicht, ist dieser nicht mehr ansprechbar. Der Helfer setzt umgehend einen Notruf ab. Während er den Bewusstlosen noch hält, erleidet der Mann einen Herzstillstand. Sofort legt Erich Schihan ihn auf den Rücken und beginnt mit Beatmung und Herzmassage. Im Hintergrund nimmt er Mitreisende und die fassungslose Ehefrau des Patienten wahr. Er drückt kräftig und im richtigen Rhythmus auf den Brustkorb des Mannes. Der Schweiß steht ihm bereits auf der Stirn, und während Minute um Minute verstreicht, schwinden seine Kräfte.

Doch er schafft es, die Sauerstoffversorgung des Mannes aufrechtzuerhalten und ihn zurückzuholen. Als die Rettungsassistenten übernehmen, hilft er noch, den Patienten mit Sauerstoff zu beatmen. Während der ins Schwabinger Krankenhaus gefahren wird, hat Erich Schihan zum ersten Mal Zeit, sich um sich selbst zu kümmern. Er ist körperlich völlig am Ende. Dennoch ist die Botschaft, die er allen Kollegen mitgeben will: „Wenn jemand in meinem hohen Alter eine Wiederbelebung meistert, können sich das auch die Jungen zutrauen.“ Allerdings dürfe man die psychischen Folgen nicht unterschätzen: „Eine Lebensrettung ist der schwierigste Einsatz, den ein Sanitäter leisten kann. Die seelische Belastung bemerkt man erst später. Dann muss man sich sagen, dass man alles richtig gemacht hat. Auch wenn der Patient verstirbt: Als Helfer hat man getan, was man tun konnte.“

1964 kommt Erich Schihan über einen Erste-Hilfe-Kurs zu seinem ehrenamtlichen Engagement. Schnell steigt er innerhalb seiner Sanitätsdienst-Kolonne auf und bringt es in den 60er-Jahren zum Ausbilder beim ABC-Dienst, der bei atomaren, biologischen oder chemischen Zwischenfällen aktiv wird, und 1981 zum stellvertretenden Kreiskolonnenführer. Doch irgendwann kann er das alles nicht mehr mit seinem Beruf vereinbaren. Als diplomierter Elektroingenieur ist er viel im Ausland unterwegs; zu Hause warten seine Frau und zwei Kinder.

Um sich Freiräume zu verschaffen, tauscht er die Führungsfunktionen gegen ein Engagement als normaler Helfer im Fernmeldedienst. Doch trotz des festen Willens, die ehrenamtlichen Stunden herunterzufahren, nimmt ihn schon bald die nächste Herausforderung in Beschlag: Zu Beginn der 90er-Jahre rüstet der Wiesn-Sanitätsdienst von der Karteikarten-Verwaltung auf ein EDV-System um – und Erich Schihan mit seinem beruflichen Hintergrund scheint der ideale Mann, um das Projekt voranzutreiben.

„Wir arbeiteten mit primitivsten Mitteln“, weiß er noch heute. „Unsere Ausrüstung bestand aus ausrangierten Rechnern, die wir von Firmen geschenkt bekommen hatten.“ Patienten-, Helfer- und Einsatzdaten, Lagerhaltung, Abrechnung und Statistiken soll die Technik verwalten, was über die Jahre eine ständige Aufrüstung und Anpassung der Programme erfordert. Besser als jeder EDV-Experte kennt Erich Schihan die Abläufe auf der Wiesnwache: „Ich habe die Prozesse genau vor Augen gehabt und mir überlegt, welche Software könnte hier helfen?“ Er programmiert, stöpselt, schult die Kollegen – und ist wieder voll und ganz eingespannt. „In meiner Glanzzeit kam ich auf über 1300 ehrenamtliche Stunden pro Jahr.“

Als Techniker ist Erich Schihan auch immer wieder am Patienten gefordert. „Erich, bring dein Werkzeug mit!“, heißt es, wenn ein zu enger Ring den Finger einer Wiesnbesucherin anschwellen lässt oder sich ein Zungenpiercing in der Zahnspange verhakt hat. Schmunzelnd erinnert sich der Helfer an Einsätze dieser Art. 50 Jahre Mitgliedschaft beim Sanitätsdienst kann er heuer feiern. Und stolz auf ein ehrenamtliches Lebenswerk zurückblicken.

 

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"WILLKOMMEN IN MÜNCHEN!"

Anfang September drängten Zehntausende Flüchtlinge – überwiegend aus den Kriegsgebieten Syriens, aus Afghanistan und Irak – nach „Germany“. Am Ende der Balkanroute war ihre erste deutsche Anlaufstation das Drehkreuz München. Die Helfer des Roten Kreuzes arbeiteten in Sonderschichten, um die Erschöpften medizinisch zu versorgen und unterzubringen.

Über die Sommerferien freuen sich in diesem Jahr nicht nur die Schüler: Auch die Münchner Stadtoberen sind heilfroh, dass sie Klassenzimmer, Kantinen, Turnhallen und Sanitärbereiche der Schulen für die Unterbringung von Flüchtlingen nutzen können. Es sind dramatische Wochen, als sich im Spätsommer ein nicht enden wollender Strom von Menschen aus dem Nahen Osten in Richtung München bewegt. Allein am ersten September-Wochenende treffen 20 000 Migranten am Hauptbahnhof ein. Bis die Weiterreise in andere Regionen organisiert ist, benötigen die Ankommenden – oft traumatisiert, schlecht versorgt und wegen der bereits empfindlich kühlen Nächte erkältet – eine Unterkunft. Darunter Kleinkinder, hochschwangere Frauen und allein reisende Jugendliche.

Ein Verbund von Münchner Hilfsorganisationen hat im Luisengymnasium in der Stadtmitte ein Notlager eingerichtet. 27 ehrenamtliche Helfer des Roten Kreuzes bauen über Nacht Betten auf, verteilen Bettwäsche und richten eine Essensausgabestelle ein. Ein Kleiderlager wird mit Spenden der Bevölkerung ausgestattet. Und die Münchner helfen: Hosen, Pullover, Kinderkleidung, aber vor allem warme Jacken werden für die oftmals nur unzureichend gekleideten Flüchtlinge vorbeigebracht. In manchen abgegebenen Tüten finden die Helfer Schnuller und Babyfläschchen, die ebenfalls dringend benötigt werden. Das Hotel nebenan hat Handtücher und Badeschlappen gespendet. Ein Bettenfachgeschäft lieferte Bademäntel und Bettwäsche. Die Neuankömmlinge tragen oft lediglich einen Rucksack oder eine Plastiktüte mit ihren letzten verbliebenen Habseligkeiten bei sich. Andere besitzen nur noch, was sie am Körper tragen. Sie freuen sich über T-Shirts zum Wechseln, über gespendetes Spielzeug für die Kinder und die Hygienesets, welche die Rotkreuz-Helfer für sie ausgelegt haben. Auch feste Schuhe finden Abnehmer, tragen doch nicht wenige der Zuzügler lediglich Flipflops an den Füßen.

Lea Kubitz reicht einem Flüchtling eine Wolldecke über den Tresen. Seit sieben Uhr morgens leistet sie in der Kleiderausgabe ihren Dienst. „Der Andrang war durchgehend konstant“, erklärt sie zwischen den Gesprächen mit ihren Klienten. „Damit es übersichtlich bleibt, öffnen wir jetzt nur noch jede Viertelstunde und lassen höchstens zwanzig Leute auf einmal rein.“ Dazwischen werden Tüten mit Spenden durch die Tür gereicht. Die Helfer sichten und sortieren. „Herzlich willkommen“ steht mit Kreide auf der Schultafel hinter Lea Kubitz geschrieben – auf Deutsch und Arabisch. Der 14-jährige Abdel steht ihr zur Seite, wenn es etwas zu übersetzen gibt. Er hat sich zusammen mit seinem Freund Samer als Dolmetscher gemeldet, als sie von der Ankunft der Flüchtlinge hörten. Die Jungen sind in München aufgewachsen, stammen aber aus ägyptischen Familien, sodass sie beide Sprachen fließend sprechen. Auch Abdels Vater Ahmed hilft, wo er kann. Vor Jahren zog der Techniker aus seiner Heimat an die Isar, weil er eine Stelle bei Siemens gefunden hatte. Heute im Luisengymnasium kümmert er sich darum, Neuankömmlingen den Weg zur Essensausgabe zu zeigen und die Rotkreuz-Helfer bei der Versorgung dort zu unterstützen. Auch er steht jederzeit als Übersetzer zur Verfügung.

So assistiert er beim Gespräch mit einer syrischen Bäuerin, die Hals über Kopf von ihrem Hof flüchtete, nachdem eine Granate das Wohnhaus zerstört hatte. Von Freunden hatte sie die Nachricht erhalten, dass Deutschland Flüchtlingen eine Zukunft bietet. Und eine Zukunft möchte sie wieder haben, zumindest für ihre sechs Kinder. Eine Ausbildung sollen sie in Deutschland bekommen. Sie war im neunten Monat schwanger, als sie die Heimat verließ. Ihren Mann, der in einer Rebellengruppe gegen das Assad-Regime kämpft, musste sie zurücklassen. Zwei Monate war die Familie unterwegs: Es ging zu Fuß durch die Türkei, weiter nach Griechenland, mit dem Schiff nach Athen und von dort über Serbien, Ungarn und Österreich nach Deutschland. Auf dem Arm hält sie ihren jüngsten Sohn Karim, gerade einmal sechs Wochen alt. In Griechenland kam er per Kaiserschnitt zur Welt. Und bereits zwei Tage später machte sich die Frischoperierte mit ihrer Familie wieder auf den Weg. „Ich habe während des Laufens genügend Pausen gemacht“, berichtet sie. „Ab und zu konnten wir sogar eine Strecke mit dem Bus oder Zug fahren.“ Ihr zweitjüngster Sohn ist etwa vier Jahre alt. „Die Kinder haben sich sehr zusammengerissen und den Weg klaglos mitgemacht“, lobt sie ihren Nachwuchs. „Sie kennen den Krieg und wissen: Deutschland ist unsere letzte Chance.“ Ob sie nicht Angst um ihre Gesundheit und die der Kinder gehabt habe? „Schon“, sagt sie zögerlich, „aber ich sah keine andere Lösung.“

Im Sanitätsraum neben der Kleiderausgabe, ebenfalls ein umfunktioniertes Klassenzimmer, schaut ein kleiner Junge von seiner Liege mit müden Augen auf den Rotkreuz-Helfer, der ihn untersucht. Die Mutter sitzt auf einem Stuhl an seiner Seite und möchte wissen, warum der Kleine so schlecht schläft. Rettungssanitäter Hans Schwarzenbacher stellt fest, dass die Mandeln entzündet sind. „Vermutlich die Klimaanlage im Zug, viele unserer Patienten haben sich während der Bahnfahrt hierher eine Erkältung geholt“, fasst er seine Diagnosen der heutigen Schicht zusammen. „Während der Fußmärsche wiederum befanden sie sich in einer Wettersituation, die sie nicht kennen.“ Viel trinken, Schlaf – und warme Socken empfiehlt er der Mutter für ihren Jungen. Sie lächelt über die Socken: Dieses Kleidungsstück ist in der Heimat der Zuzügler ein ungewöhnlicher Anblick. „Wir hatten hier in den vergangenen Tagen relativ wenige Akutfälle“, berichtet Hans Schwarzenbacher. „Die meisten erleben nach ihrer langen Odyssee in München zum ersten Mal Ruhe – und dann bricht sich die Erschöpfung Bahn.“ Offene Füße vom langen Marsch sind ein häufiges Verletzungsbild, und gestern mussten drei ältere Patienten mit Herzproblemen in umliegende Krankenhäuser transportiert werden. Die leichten Fälle erhalten praktische Hinweise: eben in der Kleiderausgabe nach Socken zu schauen und sich Wolldecken umzuhängen, auch beim Herumlaufen im Gebäude. Das schützt vor Erkältung oder fördert die Genesung.

Die Helfer Hanna Glashauser und Rolf Kirsch halten in der Essensausgabe Ordnung und spülen Teile der Küchenausstattung. Immer wieder kommen Flüchtlingsfamilien in die Kellerräume, um sich ein Lunchpaket abzuholen und es an den Tischen der Schulkantine zu verzehren. Seit drei aufeinanderfolgenden Tagen sind die beiden Helfer hier aktiv. „Gestern war es am stressigsten“, fasst Hanna Glashauser den Höhepunkt des Flüchtlingsandrangs zusammen. „Da kamen 13 000 Menschen am Bahnhof an.“ Das Luisengymnasium war bis auf das letzte Bett belegt, und die Helfer hatten alle Hände voll zu tun, um ihre Schützlinge zu versorgen. „Wobei die meisten so erschöpft waren“, berichtet Rolf Kirsch, „dass sie nur noch schlafen wollten.“ Tatsächlich sieht man auf vielen Feldbetten Haarschöpfe unter den Decken herausschauen. Diszipliniert und rücksichtsvoll bewegen sich die Flüchtlinge durch Gänge und Hallen. Man hat den Eindruck, dass selbst die Kinder Respekt vor den Schlafenden zeigen. Der Boden der Turnhalle steht voller Feldbetten. Viele Familien ruhen sich hier aus. An der Tür wacht Sicherheitspersonal, um Nichtberechtigten den Eintritt zu verwehren und den Schlafenden Ruhe zu garantieren. Ein kurzes Kraftschöpfen.

Im Schulsekretariat hat das Rote Kreuz seine Einsatzzentrale eingerichtet: Hier hängen die Dienstpläne aus, und die Helfer treffen sich vor dem Schichtwechsel zur Übergabe. Nicole Maya ist schon seit Stunden im Haus aktiv und nutzt den Raum für eine kurze Verschnaufpause. Seit dem frühen Morgen hat sie Betten mit Bettzeug ausgestattet, den Ankommenden Zimmer zugewiesen, Zimmernummern mit Namen auf einer Liste notiert, Lunchpakete verteilt, weitere Betten aufgebaut und Betten, die wieder frei wurden, mit frischem Bettzeug ausgestattet. Nun findet sie Zeit, mit einem etwa sechsjährigen syrischen Jungen herumzualbern, der nicht von ihrer Seite weicht. Sie freut sich über die gelösten Gesichter der Kinder, die hier – endlich in sicherer Obhut, herzlich empfangen und rundum gut versorgt – sichtlich aufblühen. Soeben hat sie eine tränenreiche Familienzusammenführung miterlebt: „Der 15-jährige Sohn einer syrischen Familie kam bereits vor einem Jahr in Deutschland an und war in Ebersberg untergebracht. Übers Handy hatte er nun erfahren, dass seine Angehörigen an diesem Wochenende nach München unterwegs waren.“ Im Luisengymnasium traf er vor wenigen Minuten mit seinen Eltern und Geschwistern zusammen. Nun braucht die Familie erst einmal Zeit für sich.

Ansonsten herrscht in den Fluren ein Kommen und Gehen. Maximal eine Nacht bleiben die Menschen in dieser Übergangsunterkunft. Dann werden die meisten in andere Teile Deutschlands weiterreisen und auf die Bearbeitung ihrer Asylanträge warten. Für die schulpflichtigen Kinder beginnt in wenigen Tagen der Alltag in einer „Willkommensklasse“. Deutsche Unternehmen werden unter den Jugendlichen Auszubildende suchen. Studenten werden prüfen lassen, wie sie einen anerkannten Abschluss erreichen. Und die Erwachsenen hoffen darauf, eine Arbeitserlaubnis zu erhalten. Das ersehnte neue Leben beginnt.

 

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"MEHR, ALS EIN MENSCH ERTRAGEN KANN"

Während des Zweiten Weltkriegs haben nicht nur Soldaten und Zivilisten, sondern auch Sanitäter und Krankenschwestern Unvorstellbares mitgemacht.

Wie die Münchner Krankenschwester Emilie Längl an der russischen Front, vom Hunger getrieben, nachts heimlich ausrückt, ein Schwein mit letzten Resten aus dem medizinischen Bestand betäubt und zum Schlachten ins Lazarett transportiert, ist oft erzählt worden und hat die Zuhörer schmunzeln lassen. Weit weniger amüsant sind die meisten weiteren Schilderungen des Alltags der Sanitäter und Schwestern an der russischen Front: Neben den Essensvorräten gehen die Medikamente zur Neige, und die operierenden Ärzte halten die Helfer an, die sich windenden Verwundeten mit aller Kraft auf den OP-Tisch zu drücken. Nicht immer finden sie leer stehende Schulen, um Lazarette einrichten zu können; oft müssen sie mit schmutzigen Hütten vorliebnehmen. Emilie Längl leidet schon bald unter stark juckenden Kopfläusen. Und nachts halten sie die umherlaufenden Ratten und Mäuse vom Schlafen ab. Unzählige Patienten versorgt die junge Schwester – doch viele liegen schon bei der Einlieferung im Sterben. Emilie Längt sieht Männer mit Kopf- oder Bauchschüssen, ohne Beine oder Arme. Schicksale, die ihr so zu schaffen machen, dass sie ihre Oberin anfleht: „Schickt’s mich heim!“ Doch man braucht sie, sie muss bleiben und hält durch.

Der Münchner Sanitäter Toni Kiefer folgt dem Heer nach Holland, Belgien, Frankreich und Russland. Er ist noch blutjung, leistet aber auch bei schlimmsten Einsätzen tapfer seinen Dienst: Während eines Fliegerangriffs sterben die Menschen um ihn herum; Verletzte schreien vor Schmerzen. Er versorgt so viele, wie er kann. Sein Freund aus der heimischen Kolonne, Heinrich Längl, wurde als Kriegsdienstler für untauglich befunden. Daher hilft er in der Heimat, nach Bombenangriffen Verletzte aus Kellern zu holen und zu versorgen. Einem Offizier, dessen Bein von einer Granate abgerissen wurde, bindet er die Schlagader ab und muss dann doch zusehen, wie sein Patient für immer die Augen schließt. Das Vaterunser soll ihm der Junge noch vorbeten.

Heinrich Längl ist mit seinen siebzehn Jahren der jüngste ehrenamtliche Sanitäter in seiner Gruppe. Niemand fragt danach, ob all diese minderjährigen Helfer ihren Aufgaben überhaupt gewachsen sind. Sie werden in die Einsätze geschickt und haben zu funktionieren. Heinrich Längl erwischt es einmal sogar selbst: Während eines Angriffs spaltet ein Bombensplitter seinen Helm mittendurch. Am Hinterkopf klafft eine Wunde, aber der Sanitäter überlebt.

Zahlreiche weitere Münchner Helfer leisten pflichtbewusst ihren Dienst im Krieg. Der Sanitäter Ernst Neumeier ist gerade zwanzig Jahre alt, als er mit dem Heer nach Polen zieht und in Lowitz in einem Lazarett Verwundete versorgt. Später hilft er in München, Verletzten, die mit Zügen am Ostbahnhof ankommen, zu verarzten. Sie liegen in Viehwaggons, deren Holzhoden mit Stroh bedeckt ist. Auch Ernst Neumeier erlebt schlimmste Verstümmelungen und grausam Entstellte.

Menschliche Schicksale ganz anderer Art begleiten die Frauen, die später in der Heimkehrer- und Mütterbetreuungsstelle im Münchner Hauptbahnhof arbeiten: Vera Kränzl, die bereits im Ersten Weltkrieg in Köln Verwundetenzüge betreut hat, übernimmt die Leitung der Einrichtung. Etwa 2500 Menschen kommen dort jeden Monat an: heimkehrende Soldaten, Flüchtlinge aus den östlichen Teilen Deutschlands, Mütter mit Säuglingen und alleinreisende Kinder, die ihre Familie verloren haben. Als „Mutter der Heimkehrer“ macht sich Vera Kränzl bald einen Namen. Mag es noch so sehr stürmen und schneien – die Schwester und ihre Kolleginnen fangen jeden Zug persönlich ab und widmen sich den Ankommenden mit mütterlicher Zuneigung. Einen Heimkehrer kann Vera Kränzl leider nicht mehr in die Arme schließen – ihren Sohn, der als Sanitäter auf einem Lazarettschiff diente, das drei Jahre vor Kriegsende nach einem Torpedoangriff mit allen Passagieren im Meer versunken ist.

 

> „ImAlter kommen Kriegserinnerungen verstärkt hoch“

Aziz Awad arbeitet als Diplom-Psychologe bei Refugio, einem Beratungs- und Behandlungszentrum für Flüchtlinge und Folteropfer. Er schildert, was Kriegserinnerungen inder menschlichen Psyche auslösen können:

Herr Awad, wie äußert es sich, wenn schlimme Erlebnisse die Seele belasten?

Die Betroffenen haben einen starken Erinnerungsdruck: Obwohl sie es nicht wollen, kommen die schrecklichen Bilder des Erlebten ganz plötzlich wieder hoch. Auslöser können bestimmte Orte, Personen, Gerüche, Geräusche oder Bilder, zum Beispiel in den Fernsehnachrichten oder in Spielfilmen, sein. Manche Menschen reagieren panisch, wenn sie eine militärische Uniform sehen; andere schrecken beim Geräusch eines Flugzeugs zusammen, weil sie an nahende Bomber denken müssen. Aber auch ohne diese auslösenden Reize können quälende Erinnerungen die Psyche belasten – oft noch Jahrzehnte später. Diese Bilder werden als real empfunden und rufen ähnliche Ängste hervor wie damals, als die Betroffenen die Szenen selbst erlebt oder beobachtet haben. Man durchleidet das Schreckliche wieder und wieder und kann in diesen Momenten nicht zwischen Vergangenheit und Gegenwart unterscheiden.

Wie gehen die Betroffenen damit um?
Sie versuchen, sich abzulenken oder alles zu vermeiden, was die Erinnerungen hervorrufen könnte: Gebäude, vor denen uniformierte Soldaten Wache stehen, eine bestimmte Person, die an einen Folterer oder Vergewaltiger erinnert, Situationen wie den Probealarm der Sirenen, bei dem man panisch loslaufen möchte. Und dennoch kann es passieren, dass die Bilder von früher unwillkürlich vor Augen treten und die gleichen körperlichen Reaktionen wie damals – Erstarrung, Fluchtreflex, Weinkrämpfe – auslösen. Diesen Kontrollverlust empfinden die Betroffenen als besonders schlimm und haben Angst, verrückt zu werden. Langfristig können sich daraus Verhaltensweisen entwickeln, die das Leben komplett verändern: Man leidet unter massiven Schreckmomenten, unter Alpträumen und Schlafstörungen, ist ständig auf der Hut, befürchtet immer das Schlimmste und ist unfähig, anderen Menschen zu vertrauen. Viele leiden unter Depressionen oder merken irgendwann, dass sie auch für nächste Angehörige keine Gefühle mehr empfinden können.

Aber es gibt doch viele Kriegsgeschädigte, die ein ganz normales Leben führen ...
Nicht alle Menschen entwickeln eine posttraumatische Belastungsstörung. Bei vielen gehen die Symptome nach einigen Wochen zurück. Diese Menschen verfügen über ausreichend Ressourcen und konnten intuitiv Bewältigungsstrategien entwickeln, neben der bereits angesprochenen Vermeidung zum Beispiel Ablenkung: Sie stürzen sich in den Beruf, kümmern sich aufopferungsvoll um die Familie, treiben exzessiv Sport oder machen übermäßigen Gebrauch von psycho-aktiven Substanzen wie Alkohol oder Medikamenten. Auf diese Weise gelingt es ihnen, die unliebsamen Erinnerungen zu verdrängen. Fällt diese Ablenkung allerdings irgendwann weg – beispielsweise durch die Pensionierung, den Auszug der Kinder, den Verlust des Partners oder gesundheitliche Einschränkungen –, führt das oft dazu, dass sich das Trauma nun doch wieder Bahn bricht. Krisen treten ja leider verstärkt in Schwächephasen auf, in denen das Leben nicht mehr ausgefüllt ist – und damit oft erst im Alter. Daher erleben wir heute zunehmend, dass die Kinder des Zweiten Weltkriegs von ihren Erinnerungen eingeholt werden und mit der Bewältigung überfordert sind.

Wie können Angehörige damit umgehen?
Das ist nicht einfach, denn viele Betroffene schämen sich für ihre Belastungsstörung und reden nicht darüber. Sie ziehen sich komplett zurück und machen ihre Ängste mit sich selbst aus. Treten die Symptome vermehrt auf, sollte der Betroffene bei einem Experten Hilfe suchen. Das kann ein Hausarzt sein, der sensibel genug ist, um das Problem richtig einzuordnen. Er wird eine entsprechende Behandlung anbieten oder den Patienten an spezialisierte Ärzte beziehungsweise Therapeuten überweisen. Man kann sich aber auch direkt an einen Psychotherapeuten wenden. Gerade späte Erinnerungen brauchen Zeit und jemanden, der mit umfassendem Know-how darauf eingeht. Die eigenen Kinder kommen nicht unbedingt darauf, dass die aktuellen Verhaltensänderungen mit schlimmen Kriegserlebnissen zusammenhängen.

Welche Therapien greifen in dieser Phase?

Das Ziel in der Behandlung von traumatisierten Menschen im Alter ist es, die belastenden Symptome zu mildern. Bei älteren Menschen ist es manchmal besser, nicht in die Vergangenheit einzutauchen und vergessene Geschichten wieder aufzuwühlen; hier ist es ratsamer, die aktuell vorgetragenen Beschwerden anzuschauen und Hilfe zu bieten. Entscheidend ist eine vertrauensvolle Beziehung zum Psychotherapeuten. Oft erleben die Betroffenen das professionelle Gespräch als große Erleichterung: Ich bin ja gar nicht verrückt! Ich werde ernst genommen, mir wird geglaubt, mein Verhalten ist vollkommen normal.

Kann das Gespräch nach Jahrzehnten des Verdrängens aber nicht auch dazu führen, dass die Erinnerungen umso lebendiger hochkommen?
Damit sich die Symptome nicht verstärken, ist ein geschulter Gesprächspartner wichtig. Er entscheidet je nach Charakter und Ressourcen des Klienten, wie er vorgeht, und findet heraus, welche Schemata sein Gegenüber benutzt, um auf der Welt zurechtzukommen: Bei manchen ist es sinnvoll, die Erinnerung im Detail abzurufen und dann analytisch zu sortieren – dazu kann der Therapeut spezielle Therapien, zum Beispiel die Traumtherapie mithilfe der Kognitiven Verhaltenstherapie und bei Bedarf die Konfrontationstherapie, anwenden. Bei anderen Betroffenen erscheint die symptomorientierte klassische Psychotherapie sinnvoller. Hier behandelt man die vorgetragenen aktuellen Beschwerden (beispielsweise eine Angststörung, Depression, Zwangsstörung, Schlafstörung usw.) ohne Konfrontation mit den vergangenen traumatischen Erlebnissen. Manchmal kann eine ressourcenorientierte Psychotherapie zweckmäßiger erscheinen. Gemeinsam sucht man nach plausiblen Erklärungen: Wie hat die Bewältigung im Leben des Betroffenen bis jetzt funktioniert? Welcher Lebensumbruch hat sich ergeben? Und welche seiner Fähigkeiten kann der Klient jetzt einsetzen, um weiter erfolgreich mit den Erinnerungen zu leben?

Gibt es Charaktere, die mehr als andere unter belastenden Eindrücken leiden?
Es kann jeden gleich treffen. Manchmal erweist sich eine gewisse Bildung oder soziales Eingebundensein als Schutzfaktor, etwa weil man sich die seelischen Reaktionen plausibel machen kann oder vom Umfeld aufgefangen wird. Manchen helfen auch bestimmte Erfahrungen, die sie im Zusammenleben mit Menschen gemacht haben, um das Erlebte besser zu verarbeiten. Andere finden Trost im Glauben. All dies kann, muss sich aber nicht schützend auswirken.

Ist es ein Zeichen von Schwäche, wenn man nicht allein mit der Erinnerung zurechtkommt?
Absolut nicht! Reaktionen wie Angst und Panik sind nach traumatischen Erlebnissen völlig normal. Es ist wichtig, die Ursache zweifelsfrei zu klären – vielen Menschen ist es eine Hilfe, eine plausible Erklärung für ihren Zustand zu finden. Ein großer Teil der Ängste verfliegt oft bereits mit dem Wissen, woher sie rühren. Allein deshalb sollte man sich einem Fachmann anvertrauen.